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Ving Tsun vs. MMA

Was ist besser?

 

Jeder Mensch, der sich um das Thema Selbstverteidigung und damit um seine eigene Sicherheit kümmern möchte, kommt um das Thema Effektivität nicht drumherum.

 

Früher oder später, stellt man sich die Frage "Was ist am effizientesten?".

 

Man unterhält sich mit Freunden und Bekannten und versucht genau das herauszufinden.

          

Man googelt und liest sich die Informationen zu den verschiedensten Kampfsportarten durch. Und wenn man Pech hat, liest man den ein oder anderen Kommentar unter dem ein oder anderen TikTok- oder YouTube-Video.

          

Warum Pech?

 

Viele Kommentare sind nicht objektiv, überlegt oder wohlwollend, sondern haben nur den Zweck, den jeweiligen gezeigten Stil schlecht zu machen.

 

Man liest, dass nur Stil XY wirklich effektiv ist, dass der im Video gezeigte Stil nicht "straßentauglich" sei.

      

Auch ich muss mich immer wieder mit Kommentaren unter meinen Posts auseinandersetzen.

         

Was ist denn jetzt besser? Ving Tsun oder Mixed Martial Arts? Muay Thai oder klassisches Boxen?

 

Und warum sind so viele Menschen der Meinung, dass Wing Chun nicht effizient ist?

         

Nun, das liegt in erster Linie daran, dass Ving Tsun in vielen Vergleichskämpfen nicht gut abschneidet. Aber warum ist das so, und wenn das so ist, warum betreibe ich selbst seit über 20 Jahren leidenschaftlich Ving Tsun?

         

Die häufigste Antwort, die ich darauf höre, ist folgende:

 

Im Kampfsport muss ich mich an Regeln halten und das Reglement nimmt dem Ving Tsun seine effizienten Techniken. So darf man z.B. keine Fingerstiche zum Auge geben, auf den Hinterkopf schlagen und Ähnliches.

         

Und das ist meiner Meinung nach die schlechteste Antwort, die man auf diese Frage geben kann.

 

Und sie ist schlicht falsch!    

 

Ein Kampf findet immer zwischen zwei Menschen statt, und wenn ich in einem Vergleich zwei Stile gegeneinander antreten lasse, dann kämpfen immer auch zwei unterschiedliche Menschen gegeneinander. Klar darf ich im Ring dem Gegner nicht in die Augen stechen oder den Kehlkopf einschlagen, aber Ving Tsun ist soviel mehr als diese zwei Punkte.

 

Was ist ausschlaggebend für den Erfolg im Kampf?

 

Technisches Know How:

 

Das Skill-Level im technischen Bereich umfasst im Ving Tsun die korrekte Ausführung. Ohne korrekte, eingeschliffene Technik kann ich nicht arbeiten. Das setzt voraus, dass ich genau weiß, welche Technik ich wie auszuführen habe, und in welchem Moment.

         

Mechanik und Gefühl:

 

Trete ich in den Ring, möchte ich nicht mein Gleichgewicht verlieren. Ich brauche einen stabilen Stand und eine strukturell starke Basis mit der ich arbeiten kann. Diese strukturell starke Basis ermöglicht es mir, unter anderem koordiniert zu schlagen, einkommende Kräfte zu neutralisieren und relaxt arbeiten zu können. Die Wahrscheinlichkeit, mein Gleichgewicht und meine Handlungsfreiheit im Kampf zu verlieren und dadurch getroffen zu werden, wird damit kleiner.    

 

Gefühl hat im Ving Tsun nichts mit Hass oder Liebe zu tun, sondern beschreibt meine taktilen Fähigkeiten, die ich im Training z.B. durch Chi-Sao-Übungen erlange. Das Thema Chi-Sao werde ich an anderer Stelle genauer erläutern. Kurz zusammengefasst, haben wir die Möglichkeit, die Richtung der gegnerischen Kraft zu erfühlen und in einer Kontaktsituation zu unserem Vorteil auszunutzen. Wir nennen das 聽勁 Ting Geng.

         

Timing- und Distanzgefühl:

 

Am Ende kann die Technik, die Struktur und das Gefühl noch so gut sein, wenn ich im "Niemandsland" stehe und ich meine Angriffe und verteidigenden Aktionen nicht koordinieren und timen kann, ist Alles nichts. Ich bin ständig in der falschen Distanz und kann keine Treffer landen. Oder verpasse den Moment, in dem die Chance auf eine kampfentscheidende Situation da war.

         

Mentale Kontrolle und psychische Verfassung:

 

Die emotionale Kontrolle ist ein sehr wichtiger Punkt, wenn es um das Gewinnen eines Kampfes geht. Sowohl die Gier nach einem Sieg, als auch die Angst vor Treffern im Kampf kann einen den Sieg kosten. Im Ving Tsun sagen wir dazu "Mo kuen da, bat wei da".    

 

Die psychische Verfassung, z.B. nach mehreren Niederlagen ist ebenfalls stark ausschlaggebend für einen erneuten Erfolg im Ring oder auf der Straße.

         

Physis:

 

Die körperliche Fitness ist last but not least ein wichtiger Punkt, den man nicht aus den Augen verlieren darf. Wie stark trainiert ist der Kämpfer? Trainiert er jeden Tag oder nur zwei Mal die Woche? Trainiert er 5 Stunden am Tag oder nur 1,5 Stunden?

 

Hier geht es nicht nur um reine Muskelkraft, sondern auch um Ausdauer, Schnelligkeit und Flexibilität. Ein Kämpfer mit guter Physis kann Schläge besser einstecken, schneller reagieren und ist widerstandsfähiger gegen Ermüdung.

 

Cross-Training/Sparring:

 

Auf einen Kampf muss man sich vorbereiten. Was im Profiboxen ganz normal ist (z. B. durch Videoanalyse), wird in vielen anderen Kampfkünsten und Vereinen vernachlässigt. 

Man darf nicht in seiner eigenen Blase stecken und denken, nur weil man die Trainingspartner in der eigenen Schule dominiert, dominiert man auch Kämpfer anderer Stile. Nehmt euch einen Trainingspartner der Linkshänder ist, oder aus dem Boxen oder Kickboxen kommt, und trainiert mit ihm. Analysiert danach, was nicht gut gelaufen ist und warum. Arbeitet es auf. Trainiert die Fehler raus und startet von vorne.

 

Im Ving Tsun sollte man erst dem System vertrauen und es sehr präzise ausführen können, bevor man ins Sparring geht.

Zu frühes Sparring führt oft zu Missständen in der psychischen Verfassung und ist oft kontraproduktiv. 

Fazit

Anhand der oben genannten Punkte sieht man schnell, dass es bei weitem nicht um zwei Kampfkünste geht, die gegeneinander antreten.

         

Man muss sich immer Fragen, wer der Mensch ist, der diesen Stil betreibt und repräsentieren möchte.

         

Wie viele Jahre trainiert er und welches Trainingspensum hat er?

 

Die Wettkampf-Profis trainieren 4-5 Stunden am Tag und mehr. Oft eine Einheit morgens und eine abends.

 

Ein MMA-Profi hat also eine ganz andere Physis und eine andere professionelle Betreuung als ein Wing Chunler, der 2x in der Woche für 1,5 Stunden in seiner Stadt trainiert und seinem Hobby nachgeht. Es ist klar wer, da gewinnt.

        

Wenn der MMA-Anfänger, der zwei Mal die Woche 2 Stunden trainiert, vom Wing-Chun-Profi, der jeden Tag 4 Stunden trainiert, die Nase gebrochen bekommt, und er ohnmächtig wird, weil er kein Blut sehen kann, ist Wing Chun dann besser als MMA?

        

Wenn jemand einen Vergleichskampf sehen möchte, dann bitte müssen alle oben genannten Punkte einen ähnlichen Stand aufweisen.

 

Wenn der 70-jährige Kung-Fu-Großmeister gegen den 25-jährigen, durchtrainierten Muay-Thai-Boxer kämpft, sagt das Ergebnis gar nichts aus.    

 

In diesem Sinne: Train hart, fight easy. 

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